Donnerstag, 13. Oktober 2011

Ein Stein aus dem Heiligen Land erzählt

von Raid Sabbah

Seit einigen Jahrzehnten ist es mit der alten Beschaulichkeit im Heiligen Land vorbei. Zwar war es davor manchmal genauso hektisch, aber die Ereignisse blieben meistens recht überschaubar. Vielleicht lag das auch daran, dass ich nicht viel mitbekommen habe. Aber seit 30 Jahren ist dieser Landstrich nicht mehr wieder zu erkennen. Ich bin ziemlich oft durch die Gegend geflogen. Bestimmt weil ich gerade die richtige Größe habe. Ich liege gut in der Hand und passe in jede Steinschleuder. In den letzten 10 Jahren war es besonders schlimm. Da war ich fast ständig in der Luft. Und eins kann ich ihnen sagen: Das ist wirklich kein Spaß. Besonders dann nicht, wenn man wie ich an Höhenangst leidet. In einem Affenzahn fliegt man in schwindelnden Höhen dem Ziel entgegen. Und dann der Aufprall. Wissen sie wie oft ich mir dabei was gebrochen habe? Und wissen sie wie schmerzhaft das ist? Aber glauben sie darauf würde irgendjemand Rücksicht nehmen? Nicht die Bohne. Ein rücksichtloses und selbstsüchtiges Pack ist das. Und ich mache da keinen Unterschied zwischen Israelis und Palästinensern, zwischen Juden, Moslems oder Christen. Für mich sind die alle gleich. Menschen halt!

Unter dem Schuh eines Propheten

Eigentlich bin ich kein besonderer Stein. Und bis auf die Ereignisse der letzten 30 Jahre ist die Geschichte des Heiligen Landes fast spurlos an mir vorbeigegangen. Im Grunde habe ich bislang alle großen Ereignisse verschlafen. Einmal, und das ist sehr sehr lange her, wurde ich zur Bestrafung eines Verbrechens missbraucht. An das Vergehen und die Umstände kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an den Akt der Bestrafung schon. Ein regelrecht traumatisches Erlebnis. Denn noch nie zuvor bin ich mit Menschen in Berührung gekommen. Sagte ich Berührung? Viel zu harmlos. Das war eine Kollision, ein Aufprall, ein Frontalzusammenstoß. Ich wurde aufgehoben, durch die Luft geschleudert und prallte dann mit voller Wucht auf einen Menschenkörper, der bis zur Hüfte eingegraben war. Wieder und immer wieder. Ich weiß gar nicht wie lange die ganze Prozedur ging, weil ich irgendwann das Bewusstsein verloren habe. Als ich schließlich wieder zu mir kam, war ich von einer dunkelroten, unangenehm klebrigen Flüssigkeit überzogen. Später erfuhr ich, dass es sich bei der Flüssigkeit um Blut und bei der Bestrafung um eine Steinigung handelte. Stellen sie sich das vor! Diese Leute benutzten uns, um ihresgleichen hinzurichten. Wenn die sich auf solche bestialische Weise umbringen wollen, nur zu! Die sollen machen, was sie wollen. Aber ich – ich will damit nichts zutun haben.

Als die Katapulte der Römer auf die Mauern von Jerusalem zielten, habe ich mich von dieser kriegslüsternen Meute nicht vereinnahmen lassen und mich von dem ganzen Trubel zurückgezogen. Und als die Römer die Stadt wieder aufbauten, gab es genug andere Steine, die sich regelrecht anbiederten, nur um Teil dieser Stadt zu werden. Die glaubten allen Ernstes, dass diesmal die Mauern Jerusalems überdauern würden. Ha, da hatten sich meine Artgenossen aber gehörig geschnitten. Im Laufe der letzten 2000 Jahre wurde die Stadt nämlich 20 mal belagert, 2 mal völlig zerstört und 18 mal wiederaufgebaut. Beeindruckende Bilanz, nicht wahr?

Wie dem auch sei. Die großen Ereignisse sind alle ohne mich abgelaufen. Ich glaube nicht einmal, dass ich Jesus gesehen habe. Damals wurden so viele Menschen von den Römern ans Kreuz genagelt, wie hätte ich da Jesus herausfinden sollen. Auch in der Schlacht von Hittin habe ich mich nicht missbrauchen lassen. Und Richard Löwenherz habe ich ebenso die kalte Schulter gezeigt. Ich verbrachte anschließend viele Jahrhunderte gemeinsam mit anderen Steinen in der Begrenzungsmauer eines Olivenhains. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Jedes Jahr sah ich die Bauern wie sie sich liebevoll um ihre Olivenbäume kümmerten und die Ernte einfuhren. Ich sah sie, wie sie mit einer riesigen Steinpresse Olivenöl gewannen, das sich ihre Kinder mit frisch gebackenem Fladenbrot schmecken ließen. Und ich sah wie diese Kinder zu Erwachsenen heranreiften, irgendwann die Arbeit ihrer Eltern übernahmen, und nach einem friedlichen und erfüllten Leben die Arbeit wiederum an ihre Nachkommen abgaben. Was sonst hätte ein Stein auch machen können, als da zu liegen und alles zu beobachten? Ich hatte nicht das Glück, auf einen Propheten zu treffen, der mir eine besondere Aufgabe zugewiesen hätte, und sei es nur die, unter seinem Schuh zu liegen.

Die Israelis kommen

Über Jahrhunderte lag ich also da und bewachte die Olivenbäume. Und eines Tages, wie aus dem Nichts, kamen die Israelis – oder besser gesagt Juden, die Israelis wurden, was immer sie auch vorher gewesen sein mochten. Zuerst dachte ich, die sind wie die anderen, wie die Osmanen oder die Briten. Eine Last für meine arabischen Bauern, doch kein Problem für mich. Aber da hatte ich mich getäuscht. Denn sie kamen mit Bulldozern, rissen die Mauer ein, in der ich die letzten Jahrhunderte friedlich vor mich hingedöst hatte, und ebneten das Feld ein. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Natürlich, jetzt wuchsen Tomaten, Bohnen, Zucchinis und andere Sachen in langen Reihen, und es schien, als würde alle Arbeit von den Maschinen getan. Und von den Arabern natürlich, die ihre Rücken über den Reihen krümmten. Aber was war mit mir?

Ich wurde von Feld zu Feld gestoßen, von Kinderfüßen getreten oder achtlos am Wegesrand liegen gelassen. Es schien, als ob man mich nicht einmal mehr für eine Barrikade brauchen könnte. Heutzutage wird ja selbst die kleinste Begrenzungsmauer aus Beton gefertigt. Steine mit Stolz und Würde, Steine, die Geschichte erlebt und geschrieben haben, werden nicht mehr wertgeschätzt. Und seit der Anti-Folter Konvention der Vereinten Nationen werden wir nicht einmal mehr bei Steinigungen herangezogen. Es ist zum Verzweifeln. Ich hatte das Gefühl ein nutzloses, überflüssiges Dasein zu führen. Einmal hob mich ein Tourist auf, der ein Andenken an das Heilige Land wollte. Das löste in mir ziemlich gemischte Gefühle aus. Zum einen hatte ich die Aussicht, irgendwie nützlich zu sein; andererseits wollte ich aber meine Heimat nicht verlassen. Ich landete zwischen Bananenschalen, gebrauchten Taschentüchern und einer stinkenden Burgerverpackung in einer Mülltonne am Flughafen. Weil ich mich wohl selbst als Erinnerungsstück auf irgendeinem Kaminsims nicht besonders eignete.

Das war halt mein Leben. Bis eines Tages die Steine werfenden Jungs mich in die Hände bekamen. Irgendwie ehrt mich das ja auch. Ich meine mir kann ja nicht wirklich was Schlimmes passieren. Die paar Blessuren und die Höhenangst. Das kann ich verkraften. Oder nicht?

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