Folk Club am 1. Januar 2016 – Die Zeit vergeht
„Zeit“ –
welch ein sinniges Thema für einen Folk Club am Anfang des Jahres und zumal am
ersten Tag des Jahres, wenn es den Menschen vorkommt, als hätte man noch alle
Zeit der Welt, um die guten Vorsätze für das neue Jahr umzusetzen. Aber wie
schnell ist ein Monat vergangen, und es steht schon wieder ein neuer Folk Club
vor der Tür. Das muss auch euer Chronist immer wieder erleben, wenn er nicht
sofort mit den Berichten beginnt. Es bleibt der Trost, dass manche Dinge eben
reifen müssen.
Das sich mit
der Zeit auch interessante Erkenntnisse einstellen, hatte auch Eva Salgado
erfahren, die zusammen mit Steve Perry und unserem Master John
Harrison die Szene eines sogenannten „First Footing“ spielte. Bei diesem
Brauch, der in Nordengland und Schottland beheimatet ist und der ungefähr
übersetzt „der Erste, der im neuen Jahr über die Schwelle schreitet“ heißt,
soll dieser Erste dem Haus Glück und bei seinem Eintritt ein Geschenk
mitbringen. Eines dieser traditionellen Geschenke ist ein Stück Kohle, das Eva
und Steve bei ihrer Ankunft dem „Hausherrn“ John überreichten. Die Kohle steht
für Wärme, aber es gibt noch weitere rituelle Geschenke, die der „First Footer“
normalerweise mitbringt, darunter eine Münze (für Glück und Wohlstand), Brot
(für Nahrung), Salz (für Geschmack) und Whisky (für Spaß und Freude).
Eva
brachte dem Folk Club stattdessen eine Melodie auf ihrem galizischen Dudelsack
mit – und nun kommt die interessante Erkenntnis – die sie als Jugendliche in
Spanien immer in der Kirche gesungen habe, ohne zu wissen, dass es von einem
Komponisten aus Bonn, ihrer späteren Heimat stammt. Es geht um die Beethovens
Melodie zur Ode an die Freude – wie schön. Eva rundete ihren Auftritt mit einem
rhythmischen galizischen Tanz ab.
John
Harrison startete danach sein warm up mit einem selbstgeschiebenen Lied
über einen ehemaligen Klassenkameraden namens Kieran Patrick Flannery, der mit
15 Jahren erhängt aufgefunden wurde – sehr traurig. Etwas, aber nur etwas,
heiterer ging es zu beim Blues aus der guten alten Zeit „I’ll Turn Your Money
Green“ (von Furry Lewis aus dem Jahr 1928), der von einem Mann handelt, der
seine Frau überredet, bei ihm zu bleiben, denn er verspricht, aus ihrem Geld
mehr zu machen. Aber leider, leider hat er auch einen gewissen Hang zum
Alkohol. Bei der Eigenkomposition „Lemon Street Blues“ bezog sich John, ganz in
seinem Element, dem traditionellen Blues, auf eine Situation, bei der man erst
durch Verlust, oder Beinahe-Verlust, den Wert von etwas richtig schätzen lernt.
Gerd
Schinkel und GW Spiller behandelten das Thema des heutigen Tages
ganz im Sinne reifer Herren, nämlich mit einem Lied übers Älterwerden oder wie
Gerd sich ausdrückt mit einer „Bilanz auf der Zielgeraden des Lebens“. „Manche
Tage“ lautet der Titel einer von Gerds Eigenkompositionen, die wunderbar
poetisch und humorvoll die Situation im fortgeschrittenen Lebensabschnitt
schildert. Letztlich endet das Lied aber mit der sarkastischen Bemerkung „es
bleibt auch sinnlos, wenn ich vor mir selbst weit fliehe, denn schließlich
kommt ja doch am Ende jeder dran“ – wie wahr!
Die ähnliche
Materie ist Gegenstand des Liedes „Brillejestell“, bei der Gerd in schönstem
rheinischen Platt die zerstreute Suche nach der verlegten Brille schildert, die
sich dann doch – oh Wunder – bereits op de Nas befindet – immer wieder köstlich
und von Gerd und GW wunderbar vorgetragen.
Treue
Gefolgsleute des Folk Club sind 2Sunny alias Tajana Schwarz und Ralf
Haupts. „Catch the Wind“ von Donovan besingt den vergeblichen Versuch, das
Flüchtige, Immaterielle einzufangen und hat damit auch einen Bezug zur
flüchtigen und nicht einzufangenden Zeit. Wunderbar die zweistimmige
Melodieführung der beiden mit dem besonders reizvollen Arrangement, bei dem die
Frau die „Unterstimme“ singt. Ganz auf Tatjanas berückende Altstimme
zugeschnitten sind die Lieder, mit denen einst die verführerische Zarah Leander
das Publikum in Deutschland verzauberte. „Kann den Liebe Sünde sein?“ gehört zu
den schönsten Liedern in Tatjanas Repertoire – großer Applaus.
Mit einem
kleinen Lied in polnischer Sprache und dann noch a capella wartete Gerda
Konietzny auf. „Kochać to znaczy powstawać“ drückt die Hingabe an Gott aus
und der Liedtitel sagt, dass die Liebe immer wieder aufs Neue entstehen müsse.
Ein
besonderes Schmankerl wartete auf das Publikum mit dem Auftritt von Ana
Maria Leistikow und Thomas Neuhalfen. Ana und Thomas treten
normalerweise mit ihrer Gruppe Astatine auf und waren auch bereits im
Folk Club. Ana verkündete jedoch geheimnisvoll, dass sie sich aktuell
schwerpunktmäßig anderen Aufgaben widme. Thomas hatte sie zu einem spontanen
Auftritt im Folk Club überredet, bei dem Anas Gesang lediglich von Thomas auf
dem Kontrabass begleitet wurde – eine sehr ungewöhnliche Kombination aber eine
außerordentlich reizvolle. Thomas hatte für die Lieder eigens die Arrangements
angepasst. Und hinein ging’s in die große Kunst des Jazzgesangs. Kurz gesagt,
die Beiden präsentierten dem Publikum drei kleine Edelsteine, die unter anderem
zum Repertoire von Ella Fitzgerald gehörten: „Bye, Bye Blackbird“, das 90 Jahre
alte Stück von Ray Henderson ist zwar melancholisch, klingt aber nicht ein
bisschen altbacken. Thomas brillierte mit einem gekonnten Basssolo. Das Lied
„Honeysuckle Rose“ ist da schon ein bisschen fröhlicher, und Ana zeigte ihr
gesangstechnisches Können mit schönen Dynamikwechseln und wunderbarer
Gestaltung vor allem in den Höhen. Bei „Whisper Not“ hatte sich Ana richtig
warmgesungen und schwang ihre tolle Stimme nach Belieben die Register hinauf
und hinab – schade, dass der Auftritt der beiden mit diesem Lied schon beendet
war – großer Applaus für Thomas und Ana.
Die Special
Guests dieses Abends waren Jan Hoffmann (Gesang und Gitarre) und Volker
Lindner (Geige), die als Duo „Folkscheuchen“ mit selbstgeschriebenen
Liedern und Instrumentals auftreten. Den Einstieg bildete ein schwungvolles
Instrumentalstück mit Anleihen an Klezmermusik. Direkt anschließend spielten
sie das Lied „Eine klapprige Gestalt“, ein Lied über eine Vogelscheuche, die
als Symbol der Vergänglichkeit dient. „Wir warten schon“ beschreibt die Gefühle
von Musikern, die aufgeregt und nervös auf ihren Auftritt warten, wunderbar
gesungen von Jan. Eindrücke aus der Jugendzeit beschreibt das Lied
„Nachtwanderung“. „Bildersturm“ besingt die Eindrücke von Bildern die sich bei
Jan, der das Lied geschrieben hat, als Kind in seinem Kopf abgespielt haben –
beeindruckend. Ebenfalls sehr persönliche Eindrücke schildert das Lied „Große
Liebe“. Darin geht es um eine Zeit, die man abschließt, und dieser Abschied von
der Vergangenheit ist mit inneren Dramen verbunden – wunderbar gesanglich und
melodisch umgesetzt von den beiden. Auch in die Kategorie „Bedrückende
Erfahrungen“ gehört das Lied „Urlaubsangst“, das von einer tragischen Erfahrung
auf einer Reise handelt. Lieder, die sich mit eher verstörenden Empfindungen
und Erfahrungen beschäftigen, scheinen die Spezialität der Folkscheuchen zu
sein. Mit „Drowsy Maggie“ einem fröhlichen Instrumentalstück aus Irland
verabschiedeten sich die beiden dann unter großem Applaus von Ihrem Publikum
Aber das
waren beileibe nicht alle Glanzlichter des Abends. Da gab es noch Dieter
Faring, den begeisternden Gedichterezitator, der uns zum Jahresbeginn ein
Potpourri von Liedern und Gedichten aus seinem Repertoire, teilweise ein wenig
abgewandelt präsentierte: „Glückauf, das Neujahr kommt“, „Das alte Jahr, es ist
nun futsch“, „Was torkelt seitdem durch Nacht und Wind?“ „Happy Neujahr“ waren
einige seiner Beiträge. Nachdenklich und hintergründig war das Januargedicht
von Erich Kästner, dem scharf- und hintersinnigen Beobachter der Zeitläufte,
und dies ebenfalls nicht ohne, dass Dieter eine kleine Zeile eingeflochten
hätte. Auch das Turmuhrgedicht von Heinz Erhardt durfte nicht fehlen. Bravo
Dieter, für deine humorvollen Mitbringsel.
Drei weitere
Edelsteine bescherte uns Bernd Wallau zusammen mit seinen Nachtigallen Monica
Baron-Kroker und Sabine Hochstädter. Bernd erinnerte daran, dass wir
uns ja noch in der Weihnachtszeit befanden und begleitete auf dem Klavier
Monica und Sabine bei dem Kitsch-Klassiker „Happy Birthday Jesus“. Die drei
brachten aber das Kunststück fertig, das Lied zu „entkitschen“ und
präsentierten eine zauberhafte zweistimmige Version mit sparsamer aber
wirkungsvoller Klavierbegleitung. Kirchenmusiker Bernd ist eben ein Profi, und
Monica und Sabine haben ein feines Gesangsgefühl.
Herrlich mit a capella Gesang interpretierten die Drei das
berühmte Lied von Carl Loewe „Die Uhr“ nach dem Text von Johann Gabriel Seidl.
Das Gedicht, das in unverschnörkelter Weise aber höchst kunstvoll den Gang des
Lebens über das Bild einer Uhr beschreibt, wurde von Carl Loewe mit einer
ebenso einfachen wie eindriglichen Melodie vertont.
Etwas
humorvoller aber zugleich anrührend war die Moritat vom Lebkuchenmann Leo
Spekulatius, der zunächst vergessen wurde und dann später die ihm gebührende
Beachtung bekam. Mit Monicas hellem Sopran und Sabines Altstimme klang das an
sich so einfache Kinderlied ausgesprochen apart, und auch Bernd steuerte eine
einstimmig gesungene Strophe bei. Hier zeigte er mit leichten
Einsatzverzögerungen des Gesangs gegenüber seiner Klavierbeleitung stilistische
Meisterschaft.
Nun, das war
beileibe noch nicht alles, was der Abend zu bieten hatte. Benedict Steilmann
präsentiert mit „Time“ ein zum Thema des Abends passendes Lied von Tom Waits.
Er konnte zwar nicht mit der Reibeisenstimme von Tom Waits aufwarten (wer kann
und will das schon?), aber schön gesungen und auf der Gitarre begleitet war es
allemal.
Etwas fürs
Gefühl präsentierte danach eine siebenköpfige Combo bestehend aus
Steve Perry, John Harrison, Gabriela und Gunter Engel, Regine Mertens und Uta und Thomas Meier mit „Amazig Grace“ und „Auld
Lang Syne“. Das war natürlich auch etwas zum Mitsingen für die Gemeinde. Die
Combo hatte für den Auftritt mit Didgeridoo, Harfe und Tin Whistle eigens ein
paar im Folk Club nicht so alltägliche Instrumente mitgebracht. Dazu noch eine kleine
Anmerkung von unserem Master John: Es war das erste Mal, das bei einem Auftritt
im Folk Club die keltische Harfe und die Blues „Harfe“ (auch Mundharmonika genannt)
gemeinsam erklangen – hoffentlich stimmt’s.
Steve
Perry, Mario Dompke und Benedict Steilmann taten sich danach
zu einem Trio zusammen, um das unsterbliche Bluegrass-Stück „Dim Lights, Thick
Smoke and Loud, Loud Music“ zum Besten zu geben. Ein Lied, das wie aus einer
längst vergangenen Zeit anmutet, denn dem „Thick Smoke“ haben die Tugendwächter
erfolgreich den Garaus gemacht. Wer weiß, vielleicht folgt auch bald ein Verbot
lauter Musik. Dann hätte der Folk Club einen klaren Wettbewerbsvorteil.
Mario hatte
noch einige seiner Eigenkompositionen auf Lager. „Off’ne Wunden heilen schnell“
lautet der Titel eines Liedes mit dem bedrückenden Thema Kindesmissbrauch, das
aber als Kontrast in einer eher friedliche Melodie daher kommt. Uta Schäfer
gesellt sich dazu bei den Liedern „Jeder gehört nur sich allein“ über die Liebe
und „Smartphone Symphonie“ über den Zwang, den die kleinen Wunderdinger auf uns
ausüben. „Hallo mein liebes Smartphone, wie fandest du uns’re Nacht?“ lautet
eine Zeile aus dem zugleich witzigen wie nachdenklichen Lied.
Wie Ihr aus
dem Bericht leicht ersehen könnt, ging wieder ein vollgepackter und
unterhaltsamer Abend dem Ende entgegen, nicht aber ohne die übliche Krönung
durch den ollen Rausschmeißer „Jock Stewart“, den die Gemeinde mit Inbrunst
sang. Bald können alle das Lied auswendig, und euer Chronist kann die Anzahl
der Textblätter, die er jedes Mal anschleppt, deutlich reduzieren.
Auf
Wiedersehen am 5. Februar mitten im Höhepunkt der fünften Jahreszeit. Das
Programm mit David Blair aus Kanada und den anderen vorliegenden
Anmeldungen sieht allerdings ganz unkarnevalistisch aus. Viel Spaß verspricht
es jedoch auf jeden Fall auch ohne Alaaf.