Mittwoch, 5. Oktober 2016

Marios Bericht vom Folk Club Nr. 72 am 2. September 2016


Protest ebenso – naja, zumindest den Teil der Menschen, die gemeinsam protestieren. Wenn das Protestieren zu dem Ergebnis führt, dass die Protestanten überzeugen können, doch mal etwas vorwärts Gerichtetes, anstatt des Bisherigen auszuprobieren, also etwas Neues (Unbekanntes) zu machen, dann hat der „Pro Test“ seine Wirkung erzielt und vereint vielleicht auch Alle (pro bedeutet nämlich als lateinisches Präfix „vorwärts, vor-, hervor, anstatt, für“). Und vom guten alten Test wissen wir alle, dass er für den Sinnbegriff „ausprobieren, versuchen, etwas Neues (Unbekanntes) machen“ steht.
So fing der 72. Folk Club denn auch für mich direkt mit einem Protest (im Sinne der Definition oben) an, denn ich dachte, dass der Folk Club sich diesmal den Raum mit dem Ausklang eines Kaffeeausfluges teilen würde (so nach dem Motto, lasst uns mal was Neues ausprobieren :-) ), sah ich doch bei meinem Eintreffen einen ganzen Tisch besetzt mit feierlich gekleideten Damen (zumindest für meine Verhältnisse feierlich, denn alle hatten eine weiße Bluse an :-) ). Aber nein, wie ich sehr bald erfuhr, war die Kleidung einfach die Dokumentation der Zughörigkeit zu einem Chor – aber davon später mehr.
Eröffnet wurde auch dieser Folk Club wie immer mit dem Signalruf: Laadiieees and Gentlemen.......
Zeremonienmaster John Harrison himself bat so wieder lautstark um Ruhe, um diese sofort zu nutzen, das Motto des Tages in einem ironisch angehauchten Protestlied gegen Protestlieder darzustellen. „Ring Around a Rosy Rag“ ist ein Lied von Arlo Guthrie, der nun wahrlich in einer protestschwangeren Umgebung groß geworden ist – sowohl in seiner Familie wie auch in der damals gegen Vietnamkrieg eingestellten Hippiebewegung. Mit dem selbstgeschriebenen „1001ten Protestsong“ zeigte John wieder einmal, dass er den Blues in sich nicht nur für Interpretationen nutzt, sondern auch, um Neues zu schaffen. Ebenso wie in seinem dritten Stück „Trouble and Strife“, in dem sich der Protest gegen das immer wiederkehrende Thema Krieg ausdrückt – diesmal gegen den Jugoslawienkrieg. Sind bei vielen Protestliedern zum Zeitpunkt ihrer Interpretation die Anlässe schon vorbei, so zeigt sich doch, dass der Inhalt universell ist und nur an immer neuen Beispielen aufgezeigt wird. Wann werden wir als Menschen endlich lernen, dass Stolz, Machtgier und Unterdrückung keine Mittel für ein Zusammenleben sind. Zum Auftritt von John sollte nicht unerwähnt bleiben – wenngleich auch inzwischen fast selbstverständlich - dass der Protest von John gegen das Alleinespielen (lasst uns doch mal was Neues ausprobieren) sich zwischenzeitlich in die neue Gesellschaftsordnung des Duos John Harrison & Paolo Pacifico gefügt hat. Aber, im Gegensatz zur Ehe sind in der Musik wechselnde Partnerschaften nicht nur akzeptiert, sondern erwünscht, reichern sie doch die musikalische Landschaft an und geben neuen Schwung für Proteste (lasst uns doch mal was Neues ausprobieren) – ein Schelm, wer jetzt weitere Vergleiche zur Ehe zieht.
In diesem Sinne blieb Paolo auf der Bühne, und John wurde durch Steve Perry „ausgewechselt“, um das alte italienische Protestlied „C'era un regazzo“ von Mauro Lusini and Franco Migliacci vorzutragen. Auch dieses Lied ist, wie so viele, ein Protest gegen den Vietnamkrieg. Paolo blieb nach dem Lied bei der Urform des Protestes, in dem er etwas Neues vorschlug zu probieren, um gegen die Folgen von Naturgewalten anzukämpfen. Bei dem schrecklichen Erdbeben vor ein paar Wochen sind in Italien viele Menschen ums Leben gekommen und 40 Dörfer fast völlig verschwunden. Hierunter auch Amatrice. Amatrice ist in Italien bekannt für eine besondere Leckerei – der Pasta Amatrice; ein Nudelgericht mit einer besonders schmackhaften Soße. Paolo bietet nun an, ebendiese Soße für Partys, Familienfeiern oder auch Betriebsfeiern zu kochen und die für diese Dienstleistung gegebenen Spenden nach Amatrice weiter zu leiten. Ich bin sicher, dass das Essen dann auch mit dem einen oder anderen Mundharmonika Klang untermalt wird, was die Spendenbereitschaft noch erhöhen sollte. Eine klasse Idee.
Hatte ich schon von Macht und Unterdrückung gesprochen – natürlich, aber wie gewohnt spricht  Gerd Schinkel nicht nur darüber, sondern kleidet seinen Protest direkt in Lieder. Gesungenes kommt eben besser an, weil Gesang Inhalte besonders gut vermitteln kann. Durch die geschaffene Wohlfühlatmosphäre wird auch die Bereitschaft zur Aufnahme von Botschaften vergrößert. Der getürkte Putsch (so der Titel seines Liedes) braucht wohl nicht erläutert werden – jeder hat ihn mit Schrecken verfolgt (insbesondere, was unmittelbar nach dem Putsch passierte). Und auch, wenn das Zusammenzählen von 1 + 1 möglicherweise 2,5 oder auch nur 1,56 ergibt, so spricht die Kombination der sichtbaren Fakten bei dem Putsch in der Türkei doch eine eindeutige Sprache. Wusstet ihr, dass die Türkei das einzige Land auf der Welt ist, in dem Militärputschs zur Wiedergewinnung einer tief verwurzelten Demokratie dienten. Wenn diesmal der Erfolg ausblieb, so spricht das eher dafür, dass der Putsch halt getürkt war. Bliebe zu dem Vortrag noch zu erwähnen, dass Gerd Schinkel wieder einmal durch das gekonnte Bassspiel von GeWe Spiller unterstützt wurde.
Nun aber zu den bereits erwähnten weißen Blusen. La Bella Musica, ein Chor, der eine lange Tradition hat (gegründet 1954), aus Bad Honnef kommt und als Verein eigentlich Frauenchor Bröl e.V. heißt, hat bei einer Anfrage des Folk Clubs gerne zugestimmt, auch dort einmal zu singen.  „So fünf Chormitglieder werden wir schon für den Termin zusammenbringen“ war eine vorsichtige Aussage, die dann aber mit 25 anwesenden Damen mehr als übertroffen wurde. Was Chorgesang anbetrifft, bin ich ein lebender Beweis, wie die Bereitschaft zur Annahme von Protest (lass uns doch mal was Neues ausprobieren) eine Einstellung verändern kann. Ich war nie ein großer Freund von Chören, was mir aber in den letzten Jahren an Chorgesang, -zusammenhalt und -möglichkeiten vorgeführt wurde, hat mich überzeugt. So auch wieder beim 72. Folk Club Bonn, wo der Chor sich mit einem sehr weit bekannten Protestlied (Die Gedanken sind frei) vorstellte, um dann diesen Vorgeschmack an Vielseitigkeit, Intonationssicherheit und  Spaß an der Sache mit den Stücken „Über sieben Brücken musst du gehen“, „Aquarius“, „Let the Sunshine“ und „Hymne to Freedom“ zu verfeinern. Isch sach nur: Daumen hoch (wobei meine Meinung da völlig unerheblich ist, haben die Damen doch schon viele Preise gewonnen und sind mit dem Titel Konzertchor im Chorverband NRW beim Leistungssingen am 22. Oktober 2011 in Unna gekürt worden). Dass Chöre allein schon durch die Anzahl ihrer Mitglieder besonderen Rahmenbedingungen unterworfen sind, zeigte sich dann kurz nach dem fulminanten Auftritt in der Organisation der notwendigen Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr nach getaner Arbeit. Wenn 25 Personen mehr oder weniger gleichzeitig bedient werden, entsteht halt „ein wenig“ Unruhe.
Ein alter Bekannte, wenngleich durch seinen Umzug nach Leipzig selten gesehen, bestieg mit Richard Limbert die Bühne. Ich habe mit Richard eine Zeitlang das openmic in der Bonner Mausefalle organisiert und weiß deshalb recht gut über seinen Weg Bescheid, und der ist erstaunlich. Richard ist nicht nur musikalisch ein sich stetig entwickelnder Mensch, sondern er möchte auch musikgeschichtlich alles wissen. So erzählte er mit seinem Kurzprogramm beim Folk Club selbst eine Geschichte über die Musik und dokumentierte im ersten Stück (Folk is Coming), dass selbst in einer Stadt wie Leipzig, wo die Musikszene eher beim elektrisch unterstützten Rock tobt, der Folk weiter Einzug hält. Richard erzählte aber auch, dass  Legenden oft auch werbewirksam genutztes  Schubladendenken ist. Selbst hat er sich durch viele Gespräche in New York davon überzeugt, als er die Bedeutung von „The Village“ für die gesamte Folkszene untersuchte. Die Ergebnisse vermischt mit der Legende und in ein Lied gegossen trug er uns allen vor. Zum Abschluss seines Besuchgigs brachte er die Eigenkomposition „Rolling all My Dice“, was die Unwägsamkeit des Würfelergebnisses auf das Leben übertrug.
Nun kam Matthew Robb – hager and no glamour repräsentiert er den Inbegriff des musikalischen Straßenprotestes. Jeder der ihn sieht, verbindet sofort die Szenen der vielen Roadmovies in Bild und gelesenen Vorstellungen mit seinen Auftritten. Und genauso ist seine Musik. Unverschnörkelt, ehrlich und echt. Es bedarf keines in Perlmutt eingefassten Instrumentes und keiner Bühnenshow, um Ehrlichkeit, „Weisheit“ und Protest rüberzubringen. Authentisch wie Folk sein sollte, kam Matthew mit Band daher. Leider habe ich im allgemeinen Trubel den Titel des ersten Liedes nicht verstanden und bei Matthews Slang gelang es mir mit meinem Schulenglisch auch nicht während des Gesangs, diesen zu erahnen. Aber bei Matthew reicht es auch schon aus, sich auf die Musik zu konzentrieren, um ein Wohlgefühl zu erreichen. Mit den Titeln „Dead Man Has no Dreams“ und „Slaves“ unterstrich er weiter die Ehrlichkeit seiner Musik. Um es vorweg zunehmen, in der zweiten Hälfte des Folk Club kam Matthew mit Band noch einmal und brachte die songs „Past Time Book“, „I Don't Know Where it Began“, „The River“ und „Don't Lie to Me“. Und auch hier zeigte sich die Ehrlichkeit seiner Musik. Folk ist etwas, was gemeinsam gemacht wird, was verbindet. Matthew  unterstrich dies, indem er die beiden Ledermann Brüder und Lena Walbröl kurzerhand mit einbezog – aber zuviel will ich nicht vorwegnehmen, also lest weiter und lasst euch überraschen.
Bevor es also zu der musikalischen Verbrüderung und Verschwesterung kam, eröffnet Barry Roshto als Begleitung der mit einer erstaunlichen Stimme ausgestatteten Lena Walbröl den second set. Barry begleitete Lena am Klavier bei dem Stück „I'm Falling Fast“, um dann zur Seite zu rücken und mit Lena gemeinsam Klavier zu spielen und sie auch zweitstimmlich immer wieder in Refrainzeilen der Lieder „Gib mir nur ein Wort“ und „The Rose“ zu unterstützen. Das Publikum war hingerissen, was sich nicht zuletzt in einem tosenden Applaus, welcher unbedingt eine Zugabe forderte, ausdrückte. Diese zeigte das Folk keine Musikform, sondern eine unsterbliche Lebensform darstellt, denn Folk ist das, was das Volk singt – und wenn es eine Interpretation von Justin Biebers „Love Yourself“ ist.
Das 360 Grad Panorama der Lebensform Folk zeigte sich auch in dem nächsten Künstler John Hay. Uns allen bekannt als Sänger und Begleitgitarrist, stellte er sich heute solo und als Flamencogitarrist vor. Flamenco ist, genauso wie Tango, Blues und andere Musikformen, in sich bereits der Ausdruck von Protest. Eine Form, Lebensinhalte und Lebensarten in Musik und Tanz auszudrücken, ohne mit Worten bei Obrigkeiten Anstoß zu erwecken. Flamenco ist aber auch eine der schwierigsten Formen, die Gitarren zu spielen, und deshalb ziehe ich mit Ehrfurcht meinen Hut vor John  Hay. Mit den Stücken Soléa und Bulera brachte John uns Stimmung, Kunst und Können nah.
Was kommt nach erstem Erfolg? Nah klar, wenn es gut läuft, zweiter Erfolg. Ist dieser zweite Erfolg dadurch gekrönt, dass aus einem Erfolgsträger zwei Erfolgsträger werden, sind wir bei den Ledermann Brüdern. Dennis und Marvin haben sich dauerhaft zusammengetan und sich deshalb auch mit einem merkbaren Namen geschmückt: Bromo (warum auch immer – nach eigenen Angaben hört es sich gut an, hat aber keine tiefere Bedeutung). Angefangen haben sie mit dem Lied „Liar, Liar“ (Lügen ist oft auch nur ein Ausdruck hilflosen? Protestes), um dann in das Protestlied gegen Rechts der „Ärzte“ „Schrei nach Liebe“ überzuleiten. Bromo äußert Protest höflich, denn als erstes entschuldigten sie sich für den Ausdruck „Arschloch“ im Text (Interessant, war es doch lange eine definierte Unterscheidung zwischen Liedermachern und Liedermachings, dass die Ersten den Zeigefinger (nicht den Mittelfinger) in ihren Liedern hochhielten und die Zweiten als Ausdruck der Abgrenzung und des Lebensspaßes Fäkalsprache in ihren Texten haben mussten. Aber Bromo sind eben ernstzunehmende Musiker und weder Liedermacher noch Liedermachings :-) ). Aber zurück zum angesagten Protestlied. Der Schrei nach Liebe prangert an, versucht aber auch Erklärungen für das Abgleiten in rechtsradikale Szenen zu finden. Ob dies angesichts der momentanen Entwicklung von Ausländerfeindlichkeit und AfD noch angemessen ist, wage ich nicht zu entscheiden – richtig ist es jedoch immer, solche Themen öffentlich anzusprechen. Bromo kann aber auch selber!! Das Lied „Hunting Daemon“ ist aus eigenen Feder und zeigt, dass noch unwahrscheinlich viel von den Brüdern erwartet werden kann – und dies drückte sich in dem zweiten Ruf nach Zugabe an diesem Abend  aus. Schnell wurde beratschlagt und ein „zufällig“ im Repertoire befindliches Stück wurde ausgewählt – tatsächlich völlig ungeplant wurde gefragt, ob Lena dieses Lied auch drauf hat, worauf hin sich eine der wichtigsten Wirkungen von Musik einstellte – ungeplante aber intensive Gemeinsamkeit - Lena kam und aus dem Duett wurde ein Trio (erst eins, dann zwei, dann Name und jetzt.......). „I See Fire“ wurde zu einer eindrucksvollen Präsentation von Können, Wollen, Spaß und Spontaneität. Freuen wir uns auf noch viele Auftritte von Bromo und/ oder Bromo featured projects.
Jeder Folk Club geht irgendwann seinem Ende zu. Doch das Ende des 72. Folk Clubs brachte nochmals eine Steigerung. Bereits angesprochen, nahmen Matthew Robb und Band den Folk Club auch in ihrem zweiten Auftrittsteil mit on the road und zeigten wie nüchterne Sachlichkeit auch mit Spaß und stetem Klamauk verbunden werden kann – Fliege spielt in der Band mit. Aber sie zeigten noch mehr, denn was Dennis und Marvin angefangen haben, wurde von Matthew weiter getrieben und so kamen bei dem Song „The River“ nicht nur das Publikum allgemein zum Mitsingeinsatz, sondern die um Lena vergrößerten Bromos erweiterten die Matthew Robb and Friends Band.
Tja, jeder, der den Folk Club kennt und/ oder ihn seit Jahren begleitet, weiß was nun kommt: „Jock Stewart“ Patron des Clubs begleitete alle – Musiker wie Zuhörer – in den Heimweg. Jedes Ende ist aber auch ein Neuanfang und deshalb hoffe ich euch alle und noch viele mehr am 7. Oktober wieder im Sträters zu sehen. Um dies mit einem Wahlspruch des openmics zu sagen „Out of the bedroom – come to Folk Club“


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