Folk Club im Mai 2017 - Grenzen überschreiten mit Musik
Musiker, die auch in späteren
Jahren noch von sich reden machten, haben fast alle zumindest musikalische
Grenzen überschritten. Das Althergebrachte ist meist eher langweilig. So war
dieser Folk Club Abend, der die Grenzüberschreitung zum Thema gemacht hatte,
denn auch schon vom Programm her kurzweilig und sorgte natürlich wieder für die
nötige Portion Glückshormone bei allen Beteiligten.
Dabei ging die Sache
Folk-Club-mäßig eher traditionell los mit John
Harrisons allseits erwartetem und dann doch wieder erschreckendem
Schlachtruf, der den Abend unüberhörbar eröffnete.
Johns Einstieg in den Abend
begann mit dem Lied „Motherless Child“, nein nicht dem Lied, das Richie Havens
beim legendären Woodstock-Festival gesungen hatte. Der Blues, den John auf
seiner Resonator-Gitarre begleitete und zu dem Paolo Pacifico schöne, zurückhaltende Percussion beisteuerte,
stammt aus dem Jahr 1927 und ist von Altmeister Barbecue Bill Hicks. An
„Crossroads“, Wegkreuzungen also, muss man sich für die Richtung entscheiden
und kann dabei auch schon mal aus dem Gleichgewicht geraten. Das Lied stammt
von Robert Johnson, einem anderen berühmten Blues-Altmeister. John wurde von
einem famos aufspielenden Paolo an der Mundharmonika begleitet. „Mr Solitaire“
ist eine Eigenkomposition von John über einen Mann, der manchmal ein wenig
einsam ist. Das Lied hat eine berückende Gitarrenbegleitung mit wunderbaren
Tonartwechseln und kleinen Soli, die John mit Bravour meisterte. Paolo
begleitete das Lied zart und zurückhaltend und doch virtuos auf seiner
Mundharmonika – großer Applaus für John und Paolo. Ihr werdet immer besser!
Über wahrhaftige
Grenzüberschreitungen lesen wir in der Bibel, und die Geschichte, in der Jesus
über das Wasser wandelte, ist eine davon. Unser Gedichte-Experte für die Bonner
Mundart Gert Müller präsentierte die
Bibel-Verse in der Version seines Freundes Ferdinand Böhm als Gedicht op
Bönnsch Plaat – einfach köstlich.
Über die Grenzüberschreitungen
von Uli Hoeneß sinnierte Gerd Schinkel
in seiner Ballade, die er diesmal nicht auf seiner Gitarre begleitete sondern
auf der Autoharp („Die heißt so, weil man sie auch im Auto spielen kann“, ist
Gerds nicht ganz ernst gemeinte Erklärung für die Bezeichnung des Instruments).
Dazu gab GW Spiller mit seiner
gewaltigen Tuba dem Lied die richtige bajuwarische Stimmung. Die Ballade hatte
in Vollversion offenbar abendfüllenden Umfang, so dass Gerd sie für den Folk
Club passend zurechtstutzen musste. Aber auch das reichte bereits. Euer
Chronist möchte gar nicht wissen, was Gerd dem „lieben“ Uli noch alles an den
Kopf zu werfen hat. Wer es mit Gerds bissigen Liedern zu tun bekommt, der muss
sich vorsehen. Der ehemalige Bischof von Limburg weiß ein Lied davon zu singen.
Gerd ging, GW blieb, und Mary Krah
mit ihrer Harfe gesellte sich zu ihm. Die Kombination von Harfe und Tuba allein
ist schon eine Grenzüberschreitung. Mit dem romantischen Lied „Autumn Leaves“,
das sie instrumental vorführten, zeigte sich aber, dass auch diese Kombination
wunderbare Wirkung entfalten kann. Ob die beiden das Folgende gewusst haben?
Das Lied Autumn Leaves ist an sich schon eine Grenzüberschreitung der
komplexeren Art: Entstanden als französischer Chanson „Les Feuilles Mortes“ mit
Musik von Joseph Kosma und Worten von Jaques Prévert wurde es von Johnny Mercer
später ins Englische übertragen und entwickelte sich zu einem überaus beliebten
Jazzstandard. Damit aber nicht genug der Grenzwechselei. Die Melodie des
sogenannten B-Teils des Liedes (Wegen der A-A-B-C-Strukur der Melodie) wurde
vermutlich aus einem revolutionären Arbeiterlied der 1920er Jahre „geklaut“
(Die Arbeiter von Wien). Dieses wiederum basiert auf dem sowjetischen Marsch
„Weiße Armee, schwarzer Baron“. Das ist doch was. Habt Ihr es gewusst, Mary und
GW? Ich bis heute auch nicht, aber
Wikipedia vermittelt einen guten Einstieg in die Dinge. Immerhin, dem Publikum
gefiel die Musik und die Beiden mussten eine Zugabe spielen. Mit „Summertime“
von George Gershwin (auch ein Grenzwandler zwischen Jazz und Klassik) lagen die
beiden goldrichtig – Applaus für Mary und GW.
Echte musikalische
Grenzüberschreiter sind Jan Hoffmann
(Gitarre und Gesang) und Volker Lindner
(Geige und Bouzuki), die sich „Folkscheuchen“
nennen. Teils instrumental, teils mit Gesang fegten sie mit ihren Stücken durch
den Saal. Dabei ist vor allem die Instrumentalisierung mit Geige ein besonderes
Schmankerl. Irgendwie erinnern die beiden an Jethro Tull, bei denen Ian
Anderson mit seiner Querflöte auch ein ungewöhnliches Element in die doch stark
von der Gitarre dominierte Rock-Musik gebracht hatte. Neben der Wahl der
Instrumente sind auch die Arrangements ihrer Lieder eine spritzige Wanderung
zwischen Folk und Rock. Den Start machten die Folkscheuchen mit einem
traditionellen jüdischen Stück namens „Scherele“, das aber von einem Intro aus
der Rock-Sphäre eingeleitet wurde. „Wie beim ersten Mal“ besingt die gute alte
Zeit als Musik noch von Hand gemacht wurde (Frage: wieso die alte Zeit? Kommt
doch in den Folk Club, da bekommt ihr handgemachte Musik). Das Lied „Die
klapprige Gestalt“ besingt eine Vogelscheuche, die die Jahrhunderte überlebt
und dabei die Veränderungen um sich her erlebt. „Ich war nie jung, schon immer
alt“ lautet eine Zeile, bedrückend und verstörend. Die Musik unterstreicht den
Text, der von Jans sicherer Singstimme vorgetragen wird, perfekt. Weitere
Liedertitel waren „Nachtwanderung“, „Urlaubsangst“ und „Bildersturm“. Auf die
bekannte Melodie von „Hava Nagila“ dichteten sie ein sehr schräges und witziges
Lied über Udo-Achim, den man eigentlich lieber nicht beim ersten Date mit Clara
dabei haben möchte. Zum Schluss, aber nicht ganz zum Schluss, gab es das
Instrumental „Drowsy Maggie“, einen traditionellen irischen Reel, also einen
Tanz. Die beiden konnten dabei ihr ganzes instrumentales solistisches Können
ausspielen. Eine letzte Zugabe vereinigte „Orange Blossom Special“ von Erwin T.
Rouse mit dem Jethro Tull-Hit
„Locomotive Breath“, ein wilder Mix und ein großer Spaß – Applaus für die
Folkscheuchen.
Mit der Kathy Freeman, der Engländerin, die Amerika so sehr liebt, aber in
Berlin lebt betrat eine weitere Grenzgängerin die Bühne. Ohne Umschweife
startete sie ihren Auftritt mit dem Lied „You Don’t Rock No More“. Gleich mit
den ersten Takten zeigte sich Kathy als musikalischer Vollprofi. Tolle
Gitarrentechnik mit Slide-Elementen und Fingerpicking gekonnt eingebaut, ihre
Stimme intonationssicher und variabel mit schönen Registerwechseln in die
Kopfstimme. Bei „Party Animal“ kann sich jeder denken, worum es geht. Bei
„Three Little Questions“ ging es anders als bei den ersten Liedern weniger
aggressiv zu, genauer gesagt, es war wunderbarer Country-Schmalz von der
feinsten Sorte. „How much would it take to let her go“ lautete die
entscheidende Phrase des Textes. „England Doesn’t Love Me Any More“ ist der
wehmütige Titel eines Liedes, das Kathys Sehnsucht nach der Heimat
dokumentiert, die ihre Türen für die Ausgewanderte verschlossen hat. Den Inhalt
von „Bitch Like You“ wollen wir lieber nicht vertiefen. Bei „Red Wine, Gold
Rings“, kamen die lauernden Country-Fans aus ihren Löchern und voll auf ihre
Kosten, und für die Sangesbegeisterten im Publikum gab es endlich mal etwas zu
tun. Sie durften den Refrain mitsingen. Auch bei „O.V.E.R.“ hatte Kathy tief in
die Country-Kiste gegriffen. Natürlich ging es dabei um das Ende einer
Beziehung, und es war auch das Signal für das Ende des Auftritts, aber Kathy
kam nicht ohne zwei Zugaben davon. Zunächst wählte sie ausnahmsweise
„Fremdmaterial“: „These Boots Are Made for Walking“ hätte auch von ihr stammen
können, die Stiefel passten jedenfalls gut zu ihr. Mit „Take These Teardrops
from My Eyes“ verabschiedete Kathy sich vom Publikum, das der authentischen und
sympathischen Künstlerin einen tollen Applaus gab.
Als Wecker nach der Pause
startete Barry Roshto leider nahezu
ungehört vom noch im Pausenmodus munter schwatzenden Publikum mit einer
emotionalen Version von „Wayfaring Stranger“. Das Arrangement hatte er selbst
geschrieben für die Beerdigung seines Vaters vor einem Jahr in Louisiana. Es war
herzergreifend schön, wie Barry dieses alte amerikanische Volkslied vortrug,
das die Reise der Seele durchs Leben beschreibt, die in ihrer Heimkehr durch
das Überschreiten des Jordans endet. Inzwischen hatte sich die Aufmerksamkeit
der Zuhörer Barry zugewandt, und so konnten sie seine beiden Louisiana-Songs,
die er zusammen mit einem famos aufspielenden Paolo Pacifico vortrug, richtig
genießen. „Streets of Evangeline oder Louisiana 1927“ von Randy Newman besingt
eine Episode aus der großen Flut in Louisiana von 1927, als die kleine Stadt
Evangeline sechs Fuß, also fast zwei Meter, unter Wasser stand und Präsident
Coolidge zu Besuch kam. Mit „I Wish I Was in New Orleans“ von Tom Waits, ging
Barry mit seiner herrlichen Stimme noch mal so richtig in die Tiefe der Seele
des Südstaatlers – Gefühl und Gänsehaut pur.
Barry machte die Bühne frei für
zwei weitere Edelsteine in Person von John
Hay und seiner Tochter Claire.
John hatten wir ja in unterschiedlichsten Konstellationen schon mehrmals im
Folk Club erleben dürfen, auch für Claire war es nicht das erste Mal. Bereits
bei unserer Feier zum 50. Folk Club im September 2014 trat sie zusammen mit
ihrem Papa auf. Mit „Too Close“, einem Lied, das in seiner Interpretation von
Alex Clare bekannt ist, ging sie gleich zur Sache, als ob Singen für sie das
Selbstverständlichste von der Welt wäre. Und sofort war der Saal
mucksmäuschenstill. Claire präsentierte sich mit herrlich kraftvoller, klarer
und beweglicher Stimme. Papa John zeigte sich dabei an der Gitarre von seiner
einfühlsamsten und spielfreudigsten Seite – ein wirklich wunderbares Duo. Nach
„Rockabye, Baby“ und „Please Have Mercy on Me“ gab es donnernden Applaus und
den Wunsch, die beiden bald im Folk Club wiederzusehen.
Daniel Bongart hatte diesmal einen Mann für die Rhythmik
mitgebracht: Frank Otto,
sinnigerweise ein Nachbar von John Harrison, der verschiedene
Percussionsinstrumente zum Einsatz brachte. „Grace is Gone“ von Dave Matthews
besingt einen Mann der seine Trauer über eine verlorene Liebe im Alkohol ertränken
will. Vielleicht auch eine Grenzüberschreitung. „Driftwood“ von Travis ist
ebenfalls ein Lied über unklare Grenzen. Mit „Little Bird“ steuerte Daniel ein
Lied aus eigener Feder bei. Das Lied ist seiner Frau gewidmet und handelt von
einem freien Vogel, toll gespielt und gesungen von den beiden. Frank würzte das
letzte Stück noch mit einem wunderbaren Trommelsolo – Bravo Daniel und Frank.
Als letzter Grenzüberschreiter
heizte Melchi Vepouyoum aus Kamerun
mit drei eigenen Liedern dem Publikum ein. Den Beginn machte er mit einem Lied,
das er quasi a capella nur begleitet von seinen um die Hände schwingenden
Rhythmuskugeln „Niass“ in seiner Muttersprache Bamum sang. „Fa Yingan – Gib’s
Ihm“ ist der Titel und es hat einen religiösen Hintergrund, wie auch das nachfolgende
Lied, bei dem Melchis Gitarre zum Einsatz kam. „Lam“ lautet der Titel und
besingt das Los eines Mannes, der heiraten will, aber an den zahlreichen
Forderungen von Geistlichen unterschiedlicher Konfessionen und Schwiegereltern
scheitert. Auch dieses Lied hat neben einer schöner Melodie eine herrlich
eingängige Rhythmik, und Melchi singt mit seiner wunderbar klaren und
kraftvollen Stimme. „Nimm mich wie ich bin“ lautet übersetzt der Titel seines
letzten Liedes – das Publikum ist begeistert.
Mit dieser bunten Mischung war
wieder ein wunderbarer Abend vergangen, der natürlich nicht ohne den
obligatorischen Rausschmeißer „Jock Stewart“ beendet werden konnte. Damit hatte
der zuende gegangene 80. Folk Club etwas ganz besonderes: Jock Stewart war am Ende
zum zweiten Mal angestimmt worden. Das erste Mal besangen alle den ollen
Schotten schon vor der Pause, denn der WDR
beehrte uns mit seiner Anwesenheit für eine kleine Reportage. Die beiden
Bild- und Tonreporterinnen benötigten natürlich auch ein lebendiges Beispiel
von Jock Stewart und konnten dafür nicht bis zum Ende des Abends ausharren.
Also mussten alle schon vor der Pause ran – kein Problem!
Beim Folk Club Nummer 81 am 2.
Juni gibt es eine kleine Wundertüte: Der ursprünglich angekündigte Featured Artist
ist leider erkrankt, und wir müssen auf Bordmittel ausweichen. Also richten wir
uns erst einmal auf eine Singers’ Night ein und hoffen auf ein Wunder.
Vielleicht bekommen wir ja doch noch Besuch aus der Ferne. Auf Wiedersehen beim
Folk Club Nummer 81, der, wie auch immer, wieder wunderbar werden wird.
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