Freitag, 3. Mai 2019

Detlefs Bericht vom Folk Club am 5. April 2019


Der Osten trifft den Westen
Zuerst sollte das Motto des Folk-Club-Abends lediglich „Der Osten“ heißen. Aber mit einer Künstlerin mit Wurzeln im fernen Osten Russlands und der anderen von der Westküste Kanadas bot es sich natürlich an, das Treffen von Ost und West als Thema zu wählen. Um es vorweg zu nehmen: Das Treffen war mehr als inspirierend. Lindsay May aus Kanada trumpfte mit melodiösen Liedern meist im Country-Stil auf.  Daria Kulesh, die Russin mit inguschetischer Herkunft, die in England lebt, interpretierte Lieder mit historischem oder märchenhaftem Inhalt, davon viele mit Bezug zu ihrer Heimat. Beiden gemein waren ihre herrlichen voluminösen und ausdrucksstarken Stimmen.
Aber mal wieder der Reihe nach:
Wie üblich eröffnete John Harrison den Abend und diesmal mit einem Gedicht des griechischen Philosophen Platon über die Musik. John trug das Gedicht nicht auf Altgriechisch sondern auf Englisch vor, so dass die meisten von uns eine Chance hatten, die schönen Worte Platons zu verstehen. Hier die Wiedergabe der ersten beiden Sätze auf Deutsch: "Die Musik ist ein moralisches Gesetz. Sie schenkt unseren Herzen eine Seele, verleiht den Gedanken Flügel, lässt die Phantasie erblühen“. Wie wahr!
Zusammen mit Christoph Thiebes an der Mundharmonika präsentierte uns John dann den schönen Blues „Alberta“ von Leadbelly. Darin geht es aber nicht um die Provinz Kanadas (fast doppelt so groß wie Deutschland und hat nur gut 4 Mio. Einwohner) sondern um eine gleichnamige Dame, mit der es irgendwelche Probleme gibt. Was wäre ein Auftritt Johns ohne ein weiteres Gedicht: passend zur Jahreszeit pries er den Magnolienbaum, der im Frühjahr für kurze Zeit mit seiner überreichen Blütenpracht die Menschen begeistert und danach für den Rest des Jahres in die Unscheinbarkeit zurücktritt. Von Altmeister Robert Johnson ist der Blues „Last Fair Deal Gone Down”. Was mit dem Lied mit dem kryptischen Text angesprochen werden soll, ist offenbar auch den Fachleuten nicht klar. Es geht wie so oft im Blues vermutlich um Niederlagen im Zusammenhang mit Liebe oder Beziehungen allgemein, Glücksspiel, Alkohol und gesellschaftlichem Status. Aber der Titel hat nach Johns Aussage doch eine Bewandtnis im Zusammenhang mit dem Abend. John teilte mit, dass er vom EU-Ratspräsidenten Donald Tusk eine Mail erhalten habe. Darin empfehle im Herr Tusk das Lied, da er gehört habe, dass auch eine Dame namens May anwesend sei. Blöd nur, dass der Ratspräsident angenommen hatte, dass es sich um die britische Premierministerin Theresa May handele – netter verspäteter Aprilscherz von John. Nun, wir durften dennoch das melancholische Lied hören, dem John und Christoph den passenden Rahmen gaben. Euer Chronist ist zudem ganz froh, dass nicht Theresa sondern Lindsay als Musikerin anwesend war. Als letztes Lied präsentierten die beiden dann einen weiteren Robert-Johnson-Blues: „From Four Until Late“ aus dem Jahr 1937 bemüht ebenfalls das Unvollkommene und die Niederlage und natürlich das spannungsreiche Verhältnis von Männern und Frauen. Christoph glänzte mit einem wunderbaren Mundharmonika-Solo und John überzeugte an seiner Resonator-Gitarre mit professionellem Fingerpicking.
Gerald Matuschek ist vielleicht nicht vielen Folk Club Besuchern im Gedächtnis. Er ist schon bei uns aufgetreten und zwar im November 2014. Geralds Spezialität ist offenbar das Ausgraben von weniger bekannten Liedern. Vom früh verstorbenen Liedermacher Gerhard Rüdiger Gundermann, der in der DDR lebte, stammt das Lied „Immer wieder wächst das Gras“. Der wehmütige, eindringliche Text, der in zwei kurzen Strophen und einem Refrain die Tragik wiederspiegelt, die oftmals der jugendlichen Aufbruchstimmung blüht, zusammen mit der traurigen Melodie mit schönen Tonartwechseln, lässt Schauer über den Rücken laufen. Gerald interpretierte das Lied eines beinahe vergessenen Künstlers mit großem Einfühlungsvermögen, und gekonnter Gitarrenbegleitung. Als seinen zweiten Beitrag zum Thema Osten spendierte Gerald uns ein Lied in polnischer Sprache – auch etwas nicht Alltägliches im Folk Club. „Jeszcze Sen“ (Dieser Traum) lautet der Titel des Lieds von Czesław Niemen, nach Geralds Aussage noch eine Ecke trauriger als das vorherige Lied. Nun, es geht schließlich um eine verflossene Liebe – viel Applaus für Gerald.
Auch gut zum Thema des Abends passte Lothar Prüntes Beitrag: „Wind of Change“ von den Scorpions ist sicherlich ein ikonisches Lied für den Aufbruch am Ende der Zeit des Kalten Krieges. Lothars eindringliche, wunderbar tragende und klare Tenorstimme ist einfach eine Klasse für sich. Nur bei den Pfeifeinlagen musste er sich vom Publikum helfen lassen. Das tat es aber gern. Das Lied wurde zu einer herrlichen Kooperationsveranstaltung von Künstler und Publikum – einfach klasse.
Zur Auflockerung als kleine Einlage mit Gymnastikeffekt steuerte eine Abordnung der „Grufties“, der Kerntruppe der Rock n‘ Rollator-Show, die Lieder „Es geht mir gut“ und „Jede Zelle meines Körpers ist glücklich“ bei – ein Riesenspaß für Grufties und Publikum, das dabei mal so richtig die Verspannungen in Schulter und Rückenmuskulatur lockern konnte.
Robert Hrubes aus den USA repräsentierte eindeutig den Westen. Am frisch gestimmten Klavier des Folk Clubs begleitete er sich bei „Let it Be“ von den Beatles und „“The House oft he Rising Sun“ (bekannt geworden in der Interpretation der Animals). John Harrison und Hansjörg Schall (hatte nach der Pause einen Auftritt mit seinem Chor Funny Thursday) unterstützten ihn nach Kräften, aber eigentlich gab es einen Folk-Club-Chor, so dass sich Robert ganz auf sein hervorragendes Klavierspiel konzentrieren konnte. Nicht ganz so bekannt beim Publikum war das Lied von Sam Cooke „Bring it on Home to Me“. Die drei Protagonisten meisterten den R&B-Song mit Bravour – viel Applaus für Robert, John und Hansjörg.
Lange hatte sie auf ihren Auftritt warten müssen, aber jetzt konnte sie ihrer großartigen Stimme freien Lauf lassen. Es ist immer wieder ein Mysterium, dass solche fantastischen Musiker wie Lindsay May aus Kanada auch im kleinen, bescheidenen Bonner Folk Club vorbeischauen und dort „nur aus Spaß an d’r Freud“ eine tolle Show bieten. Wir sind außerordentlich dankbar dafür, und das Publikum revanchiert sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit und Hingabe. „Nashville“ lautete der Titel von Lindsays Lied zum Einstieg. Es geht um Hoffnung und Träume davon ein großer Musiker zu werden – eben in Nashville, der Heimat der Country-Musik, Erfolg zu haben. Beim schwungvollen Lied „Driving“ über lange Autofahrten musste Mandoline „Harry“ als Begleitinstrument ran. „Face Full of Sun“ beschreibt die Situation am Tag nach einem Schneesturm, wenn die Sonne auf den frisch gefallenen Schnee scheint, den man aus der warmen Stube betrachten kann, während man auf einen lieben Menschen wartet, der zu Besuch kommt. Manche Lieder haben einen Hintergedanken, wie „Lie to You“, andere machen neugierig wie „Spinning 45s“ über ihre Erfahrungen damit, alte Singles zu hören. Lindsays bisherige Lieder enthielten meist viel Schwung und Energie. Dass sie auch anders kann, zeigte sie mit dem zart gesungenen und sparsam begleiteten Lied „Landslide“ von Fleetwood Mac über das Älterwerden und die Veränderungen, die den Menschen im Laufe ihres Lebens bevorstehen. Natürlich konnte sie nicht ohne Zugabe von der Bühne gehen. „The Star in the Sky“ ist ein Loblied darauf, dass, auch wenn du viel unterwegs bist, jemand daheim auf dich wartet. Mit „Roller Coaster“ beendete sie ihren Auftritt. Das Lied beschreibt die Aufs und Abs im Leben, wie eine Achterbahn halt - Riesenapplaus für Lindsay vom Publikum und Gratulation vom Chronisten für einen Auftritt mit vielen Gänsehautmomenten.
Völlig andere Musik gab es vom zweiten Featured Artist des Abends, Daria Kulesh. Daria hatte bereits einen umjubelten Auftritt im Folk Club im Mai vorigen Jahres. Daria erzählt zwar wie Lindsay mit ihren Liedern Geschichten. Diese haben aber meist einen historischen Hintergrund oder beziehen sich auf Sagen und Mythologie Russlands. Dies trifft auch auf das Lied „Vasilisa“ zu, das die Geschichte eines alten russischen Märchens erzählt, eine andere Version vom Märchen Aschenputtel. Darias Musik ist dominiert von ihrer ausdrucksstarken Stimme mit schönen Höhen und feinem Vibrato. Als Instrument verwendet sie bei vielen Liedern eine Schrutibox, ein kleines Borduninstrument, das wie ein kleiner Kasten aussieht und mit Blasebalg und Stimmzungen Begleittöne erzeugt. Dadurch kommen Gesang und der Text der Lieder wunderbar zur Geltung. Bei „Dorogi Dlimoju“ kam aber die Gitarre zum Einsatz. Das Lied, dessen Titel übersetzt „Entlang der langen Straße“ lautet, stammt aus der Zeit um den ersten Weltkrieg und war in Russland ein beliebter Schlager. Das Lied wurde in unserer Gegend durch die Version bekannt, die Ende der 1960er Jahre von Mary Hopkins gesungen wurde: „Those Were the Days“. Daria bescherte uns das Lied mit dem Refrain in mehreren Sprachen. „The Witch“ beschreibt die Geschichte der in England 1712 als Hexe zum Tode verurteilten Jane Wenham. Jane Wenham wurde aber von Königin Anne begnadigt und starb viele Jahre später eines natürlichen Todes. Das Lied, bei dem Daria sich nur mit einer Bodhran, einer keltischen Trommel begleitet, hat einen eindringlichen kurzen Refrain „A witch, a witch“, den das Publikum ausrufen darf. „The Beauty and the Pilot“ ist eine traurige Geschichte mit einem Bezug zur Historie ihrer Familie in Inguschetien, einer autonomen Republik im Südosten Russlands. Stalin verbannte 1944 alle Inguschen wegen vermeintlicher Illoyalität aus ihrer Heimat, und sogar als Kriegshelden dekorierten Soldaten wie dem gefallenen Mann der Großmutter wurden ihre Auszeichnungen aberkannt. Zudem wurde die Großmutter von der Familie verstoßen, da sie einen Inguschen geheiratet hatte. Wieder begleitet mit der Schrutibox präsentierte Daria ein Lied, das einen Bezug zur russischen Version des Weihnachtsmannes hat. „Are You Cold, Are You Cold, Yet My Maiden Fair” lautet der Refrain des zarten und Liedes, das unter die Haut geht. William Topaz McGonagall war ein schottischer Dichter, der wenig Anerkennung fand und dem nachgesagt wurde, der schlechteste Dichter zu sein, der je die englische Sprache traktierte. Aber er ließ nicht locker und dichtete und dichtete. Ähnliches schaffte Florence Foster Jenkins, allerdings mit scheußlichem Gesang. Aber auch sie ließ sich nicht davon abhalten, vor Publikum zu singen. Da sie reich war, konnte sie sich eine Zuhörerschaft zusammenstellen. Einmal schaffte sie es die Carnegie Hall zu füllen. Die Menschen wollten offenbar die verrückte Millionärin singen hören. Aber am Tag danach starb sie an einem Herzinfarkt – angeblich weil sie sich über die vernichtenden Kritiken aufgeregt hatte. Daria fühlt sich solchen Künstlern verbunden, die trotz Niederlagen Courage zeigen und einfach weitermachen und hat ihnen ein Lied gewidmet. „Shame for Glory“ setzt diesen Unglücklichen ein zartes und bezauberndes musikalisches Denkmal – der Favorit eures Chronisten. Lob für Darias Solidarität, aber seid versichert, Daria wird das Schicksal dieser bedauernswerten Existenzen nicht zu teilen brauchen.
Eine Ode an Liebe und Brüderlichkeit ist das Lied „The Quiet Joys of Brotherhood, das als einziges nicht aus Darias Feder stammt. Es wurde geschrieben von Richard Fariña und von ihm zur irischen Volksweise des Liedes „My Lagan Love“ gesungen. Mit „Heart’s Delight“, auch begleitet mit der Schruti Box, beendete sie ihr beeindruckendes Programm – Großer Applaus vom Publikum und auch vom Chronisten ein Glückwunsch für die schönen Lieder und die beeindruckende Interpretation.
Nun, wir haben die Reihenfolge nicht eingehalten, denn zwischendrin gab es noch andere schöne Beiträge:
Peter Deteren, der Hobbypoet, stellte ein schönes Gedicht über die gegenseitige Toleranz und Zuwendung vor. „Glaube, Hoffnung, Liebe, schützen uns, nicht Abwehrtriebe“ ist die schlussendliche Aussage seiner Zeilen.
Wolfgang Schriefer erfreute das Publikum mit Barry McGuires Klassiker „Eve of Destruction“.
Hansjörg Schall, der bereits am Anfang des Abends unterstützend eingesprungen war, hatte seinen Chor „Funny Thursday“ (der Chor trifft sich offenbar zu seinen Proben immer donnerstags) mitgebracht. Die Truppe stellte mit großem Enthusiasmus zunächst ein japanisches Lied über die Kirschblüte, passend zu den Ereignissen in der Bonner Nordstadt, vor. Lieder in japanischer Sprache gibt’s im Folk Club auch nicht alle Tage, dafür dickes Lob an Hansjörg! „Sakura“ lautete der Titel des Liedes zur Melodie in östlicher Harmonik. Etwas westlicher ging’s dann mit „Have You Ever Seen the Rain“ von Creedence Clearwater Revival in dreistimmiger Version – herrlich! Etwas zum Mitsingen fürs Publikum war dann „Auld Lang Syne“, das beliebte Lied für den Jahreswechsel im englischsprachigen Raum.
Gerald Löhrer hatte ein Quartett zusammengetrommelt und startete mit dem Beatles-Lied „Oh Darling“, wunderbar gesungen und mit feiner Gitarrenbegleitung. „Born to Run“ von Bruce Springsteen klingt von den Vieren nicht ganz so wild wie von Springsteen, kann sich aber hören lassen. „Creep“ von Radiohead scheint ganz wie gemacht für die Besetzung. Exzellent gesungen und gespielt. Das Lied kriecht, wie der Titel andeutet, direkt unter die Haut – Bravo ihr Vier.
Nun, das war’s für diesmal, aber nicht ohne, dass zum Abschluss des wunderbaren Abends der alte Jock Stewart von der gesamten Gemeinde besungen wurde.
Auf Wiedersehen am 3. Mai mit Attila Vural aus Zürich und David Fisher aus Birmingham.

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