Folk Club
Nr. 56 am 6. März 2015 – „Züge, Schiffe usw.”
Das Reisen
und die Ferne und alle damit verbundenen Erlebnis- und Gefühlswelten sind
wunderbare Themen für Lieder. So konnte John Harrison bei seinem
Eröffnungsauftritt für die 56. Ausgabe des Folk Clubs Bonn auch so richtig in
die Vollen greifen. „Over the Hills“ lautete der Titel des Liedes aus dem 18.
Jahrhundert, das über die oftmals zum Militärdienst gepressten Soldaten
berichtet, die mit Versprechen auf ein besseres Leben als Soldat für den Kriegsdienst
in fernen Ländern geködert wurden. Die einfühlsame Melodie im Arrangement von
John Tams und der hintersinnig melancholische Text a capella gesungen gingen
gleich am Anfang des Abends unter die Haut. Der Refrain wurde vom Publikum –
der Saal war wieder wie üblich rammelvoll – gleich mit Inbrunst mitgesungen.
John Harrison wäre nicht er selbst, wenn er uns nicht auch eine Kostprobe
englischer Lyrik geben würde. William Wordworths Gedicht „I Wandered Lonely as
a Cloud“ war ein schöner Einstieg in den herannahenden Frühling. Das Gedicht
aus dem Jahr 1804 beschreibt, wie der Dichter bei seinen Wanderungen ein Feld
blühender Narzissen sieht und wie dieses Bild ihm immer wieder in einsamen
Stunden das Herz mit Freude erfüllt. Welch ein Gegensatz zur Lyrik heutiger
Tage, die, so scheint es, überwiegend von düsteren Gedanken und Ausweglosigkeit
geprägt ist. Beim dritten Lied wurde John von Paolo Pacifico auf der
Mundharmonika und auch gesanglich bei den Refrains unterstützt: „Drivin’ Wheel“
von David Wiffen beschreibt die Not eines Mannes, den auf dem Weg zu seiner
Geliebten sein Auto im Stich lässt. Er lässt das Auto stehen und nimmt
stattdessen für sein letztes Geld den Nachtzug – das ist wahre Liebe. Dicker
Applaus für John und Paolo!
Paolo,
diesmal an der Gitarre, durfte danach gleich zusammen mit seiner Freundin Svenja
Jesumann an der Geige noch einmal ran. „Shiver me Timbers“ von Tom Waits
beschreibt ganz generell die Not, die jemanden befällt, der seine Heimat und
seine Familie verlassen muss. Svenja und Paolo wechselten sich wunderschön bei
den Gesangspassagen ab, und Svenja steuerte noch ein feines Zwischenspiel auf
ihrer Geige bei.
Eine kleine
Kostprobe ihrer exzellenten Gitarrenkunst gaben uns Werner Krotz-Vogel
und Thomas Monnerjahn bei dem Jazz-Standard „Take the A-Train“ von Billy
Strayhorn aus dem Jahre 1939. Der Pianist Strayhorn war die rechte Hand von
Duke Ellington, der viele Strayhorn-Kompositionen als seine eigenen ausgab. Das
Stück ist ein wahrer Klassiker, und die beiden Gitarristen machten daraus ein
echtes Schmuckstück. Abwechselnd spielten sie die Melodiestimme und die
Begleitung. Mit wunderbaren Schmuckfiguren, Tempowechseln und kleinen
artistischen Kabinettstückchen wurde das Stück zu einem Ohrenschmaus. Das
nächste Stück mit dem Titel „Billie’s Bounce“ des legendären Saxophonisten
Charly Parker handelte zwar nicht von Verkehrsmitteln. Werner konstruierte hier
aber eine gewagte Brücke: Parker musizierte häufig zusammen mit dem nicht
minder berühmten Saxophonisten John Coltrane, dessen Spitzname „Trane“ war, das
genauso ausgesprochen wird wie der „Train“. Auch bei diesem Jazzstück sprühten
die beiden vor Gitarrenakrobatik mit ungeheurem musikalischen
Fingerspitzengefühl.
Das Publikum
forderte eine Zugabe und bekam sie natürlich auch: „Manhã de Carnaval“ ist eine
bekannte brasilianische Melodie aus dem mehrfach preisgekrönten Film „Orfeu
Negro“ (Der Schwarze Orpheus). Aus dem ohnehin schon einschmeichelnden Lied
machten die beiden eine Ohrenweide ohnegleichen – Wann bestreiten Werner und
Thomas den einmal einen Abend als „Featured Artists“? Wie dem auch sein, der
Applaus glich einer Explosion – Herrlich!
Der gute Stephan
Weidt, der mit seiner Frau Ulrike Hund danach mit seinen
Eigenkompositionen besinnlichere und nachdenklichere Töne anschlagen wollte,
kommentierte seine Situation nach dem vorherigen fulminanten Auftritt so: „Nach
dieser schönen Musik zu spielen, ist eine Ehre“. Stephan und Ulrike sind aber
Profis genug, um sich nicht einschüchtern zu lassen. Das haben sie auch gar
nicht nötig und konnten es mit ihren drei Liedern auch gleich unter Beweis
stellen. „Frau Matusek wohnt hier nicht mehr“ ist Stephans poetische
Betrachtung einer Hausgemeinschaft, die nach dem plötzlichen Verschwinden der
guten Seele der Mitbewohner mit einem Mal aus dem Lot gerät. Stephan hat das
melancholische Lied wunderbar instrumentiert. Zusammen mit Ulrikes einfühlsamer
Flötenbegleitung, seinem kunstvollen Gitarrenspiel und seiner klaren,
prägnanten Stimme ist das Lied ein kleines Juwel. „Mit leichtem Gepäck“ beschreibt
etwas geheimnisvoll Verlusterfahrungen. Der Text steht scheinbar im Kontrast zu
der fröhlichen Melodie im Dreivierteltakt – aber nur scheinbar, denn er weist
auf die befreiende Erfahrung hin, die das „Abschütteln des Staubes“ also des
vielen Ballasts, den wir in unserem Leben anhäufen, mit sich bringt.
Ein Beitrag
zum Thema des Abends war das dritte Lied, das Ulrike von ihren zahlreichen
beruflichen Reisen nach Russland und in die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken
mitgebracht hatte: das Lied „Argo“ aus dem Trash-Musical von 1986 „Die lustige
Chronik einer gefährlichen Reise (Veselaja chronika opasnogo puteschestvija)“
aus der ehemaligen UdSSR. Ulrike hatte das Lied bezeichnenderweise auf einer
Zugfahrt in der Transsibirischen Eisenbahn gehört. Damit waren sowohl Züge als
auch Schiffe (die Argonauten fuhren ja mit dem Schiff) abgedeckt. Ulrike sang
natürlich auf Russisch und das Publikum durfte den Refrain „la la la lei la lei
“ mitsingen, und tat es auch – ein wunderbarer Spaß und dicker Applaus für
Ulrike und Stephan.
Für Tom
Meier war es der erste Auftritt im Folk Club. Im Gepäck hatte er – neben
seiner Gitarre – unter anderem den „San Francisco Bay Blues“. John Harrison
ließ es sich nicht nehmen, Tom bei diesem bekannten Blues auf der Mundharmonika
zu begleiten. Das Stück, so wurden wir belehrt, stammt nicht von Eric Clapton.
Euer Chronist hat mal recherchiert und herausgefunden, das es Jesse Fuller
zugeschrieben wird und von ihm erstmals 1954 auf Schallplatte aufgenommen
wurde. „500 Miles“ oder „If You Miss the Train I’m On“ hat auch viele
Interpreten gefunden, darunter das legendäre Trio Peter, Paul and Mary. Weiter
ging es mit Zügen, die offenbar viele Liedermacher inspiriert haben, darunter
auch Elizabeth Cotten. Ihr unsterbliches Lied „Freight Train“ interpretierte
Tom als wundeschönes Instrumental mit gekonntem Fingerpicking – Applaus und
Anerkennung für den herrlichen Beitrag.
Ein kleines
Schmankerl als Aufwärmer nach der Pause steuerten Barry Roshto am
Klavier und Claudia Huismann mit „You Call Out My Name“ von Carol King
bei. Schön, wie die beiden so fast beiläufig das Lied zweistimmig sangen und
damit den zweiten Teil des Abends einleiteten.
Shea
aus dem nordirischen Belfast hatte das Lied „Soldier“ des irischen
Liedermachers Damien Rice und eine Komposition der Schwedischen Gruppe First
Aid Kit mit dem Titel „Lion’s Roar“ für uns und fast überflüssig zu sagen, dass
hier so nebenbei wieder ein echter Edelstein auf der Folk Club-Bühne zu hören
war. Mit einer Stimme und Singweise, die leicht an den frühen Bob Dylan
erinnerte und mit professioneller Gitarrenbeherrschung gab er den beiden
Liedern eine wunderbare Stimmung.
Ebenfalls mit
zwei Liedern traten Matthew Robb
(John kündigte ihn als „Yorkshire
Matthew“ an) und Hermann Josef Wolf (alias Fliege) auf. Nach
Matthews etwas knapper Ankündigung handelte das erste Lied von Zügen und das
zweite von Schiffen. Im Schiffe-Lied ging es um Sklaventransporte. Matthew
hatte das Lied inspiriert von der Fernsehserie „Roots“ geschrieben. Leider
waren die Texte nicht allzu gut zu verstehen, aber die wunderbare
Instrumentalisierung und der Gesang entschädigten für das kleine Manko. Beide
Musiker harmonieren prächtig und transportieren ihre Musikbegeisterung
unmittelbar ins Publikum.
Daniel
Bongart ist Sänger in der Bonner Rockband „Winterfeld“. Heute spielte er
für uns „Daniel“ von Elton John. „Daniel is tonight travelling on the plane“
lautet eine Zeile des Textes, womit der Bezug zum Thema des Abends klar wird.
Mit seiner schönen, kräftigen Stimme sang er dann das selbst komponierte Lied
„Old Man“, das von seinem Onkel handelt. Sehr ambitioniert war sein Vortrag von
„Heyday“ von Mic Christopher. Trotz seiner leichten Erkältung meisterte er das
schwierig zu singende Lied mit Bravour – Dicker Applaus für Daniel.
Auch der im
Folk Club gut bekannte Peter Philips war indirekt ein Opfer der
Erkältungswelle, die ihn als einzigen von seinem Trio übrig gelassen hatte.
Aber ein wahrer Held gibt nicht auf. Statt seiner Trio-Mitstreiter spannte er
das Publikum ein, das ihn bei den Stücken „Sitting on the Dock of the Bay“ von
Otis Redding und „Jamaica Farewell“ (weltberühmt durch die Interpretation von
Harry Belafonte) tatkräftig unterstützte.
Unser
besonderer Gast des Abends hieß Paul O’Brien, und es würde mich wundern,
wenn mehr als eine Handvoll Folk Club-Besucher von ihm schon vor den
Ankündigungen für den Abend gehört gehabt hätten. Nach seinen Liedern fragte
sich aber mancher, warum Paul nicht bekannter ist. Das ist nun einmal das
Geheimnis des modernen Medien-Musikbetriebs. Paul lebt in Kanada, hat irische
Eltern, ist geboren und aufgewachsen in Großbritannien und ist gerade auf einer
Tournee durch Europa. Sein Leben in verschiedenen englischsprachigen Ländern
mit sehr unterschiedlichen Akzenten ist vielleicht das Geheimnis seiner
außergewöhnlich klaren und akzentuierten Aussprache, die es auch den weniger
geübten Zuhörern leicht machte, seine Geschichten und Liedtexte zu verstehen.
Und Paul hatte etwas zu erzählen!
Garniert mit
lustigen Geschichten aus seinem Leben und Anekdoten über Iren und Kanadier sang
er seine überwiegend selbst komponierten Lieder. „Sonny’s Dream“ handelt von
der Insel Neufundland im Osten Kanadas und ihren etwas eigenwilligen Bewohnern,
die sich nach Pauls Aussage eigentlich gar nicht als Teil Kanadas empfinden
(endlich habe ich mal gehört, wie man „Newfoundland“ richtig ausspricht). Seine
herrliche Baritonstimme mit einem zarten Vibrato verzauberte die Zuhörer
augenblicklich. Jedes seiner Lieder erzählte eine Geschichte meist mit einem
sehr persönlichen Bezug. Die Melodien scheinen zwar einfach, aber fesseln
dennoch. Sparsame aber gekonnte Fingerpicking-Gitarrenbegleitung unterstützt
die gesungenen Geschichten auf’s Köstlichste. In „American Car“ erzählt Paul
die Geschichte von einem Jungen in Europa, der glaubt Amerikanische Autos
könnten fliegen – zum Weinen schön. „Madrona Tree“ handelt von einem Baum mit
mythischer Bedeutung für die amerikanischen Ureinwohner, die Bäume dieser Art
nicht als Feuerholz nutzen. „Listen to Your Heart“ besingt die Talente, die in
uns schlummern. Es ist ein „Echolied“, und das Publikum sang die Echos
begeistert mit. In „The Quietest Voice“ geht es darum, dass oftmals die leisen
Stimmen viel zu sagen haben. Paul hatte das Lied für seine Frau geschrieben,
deren Mutter sehr früh an Multipler Sklerose verstorben war.
Paul kann
nicht nur hervorragend singen und Gitarre spielen, sondern beherrscht auch die
irische Trommel Bodhran hervorragend. „I Still Haven’t Found What I’m Looking
For“ von U2 von Paul a capella gesungen und nur mit Bodhran-Begleitung war ein
wahres Gänsehaut-Stück. Dazu trug auch der vielstimmige und vor allem
mehrstimmige Publikumschor bei, der wiederum Paul begeisterte. „I Call You My
Friend“ schrieb Paul für seinen Vater und handelt von dessen Freundschaft mit
seinem bestem Freund Jerry, aber eigentlich geht es ganz allgemein um
Freundschaft, die auch durch lange Trennung nicht endet. Auch hierbei gab es
einen vorzüglichen Refrain zum Mitsingen für das Publikum: „We share the
stories, we live the glories, and that’s why I call you my friend“ sorgte für
Gänsehaut bei allen im Saal.
Mein Favorit
aber ist das Lied von der kleinen Elli Ross, die zur Gitarrenstunde kam, aber
keine Lust auf Gitarrenunterricht hatte. Stattdessen bat sie Paul, ein Lied
über sich und ihre beste Freundin Charlotte zu schreiben, was er auch tat. Das
Lied über die beiden Mädchen und über ihre kleinen und großen Träume ist
einfach köstlich und geht direkt ins Herz. Das sollte das letzte Lied sein,
aber das tobende Publikum ließ Paul natürlich nicht ohne Zugabe gehen. „You Can
Light the Way“ ist ein Lied, das er anlässlich der Geburt seiner kleinen Nichte
geschrieben hatte, das aber auch ein wunderschönes und zu Herzen gehendes
Abschiedslied war – Paul, vielen Dank für deinen inspirierenden Auftritt, der
den Glückshormonpegel bei den Folk Club-Besuchern in ungeahnte Höhen getrieben
hat. Wir wünschen dir viel Erfolg auf deiner Tournee.
Mit unserem
alten Rausschmeißer „Jock Stewart“ ging der Abend standesgemäß zuende.
Wie freuen uns auf den nächsten Folk Club,
diesmal ausnahmsweise nicht am ersten Freitag im April, der auf den Karfreitag
fällt, sondern eine Woche früher am 27. März 2015. Wir erwarten als
besonderen Gast den Bonner Gitarristen Simon
Wahl, der derzeit im österreichischen Linz studiert und bereits im Juli
2013 im Folk Club begeistert hat.
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