Folk Club im Mai 2022 – der langsame Rückweg zur Normalität
Was ist schon Normalität, mag mancher fragen. Und gibt es überhaupt so etwas wie die Rückkehr zu ihr? Sicherlich, die Welt dreht sich weiter, und alles verändert sich, wenn auch meist langsam. Allerdings dürften zwanglose Zusammenkünfte von Menschen mit und ohne Musik und ohne komplizierte Gesundheitsvorkehrungen eher zu den „normalen“ Erscheinungen des menschlichen Lebens gehören. Ein klein wenig sind wir davon noch entfernt, da wir mit Rücksicht auf die Gesundheitsgefahren für zumindest einige unter den Teilnehmern noch mehr Corona-Vorkehrungen verlangen als uns die Landesvorschriften auferlegen. Aber die Rückkehr in den Saal von Dotty’s seit April ist schon einmal ein wichtiger Schritt, der dem Folk Club eines seiner Markenzeichen – Musik ohne jede elektrische Verstärkung – zurückgegeben hat. Auch die Zahl der Zuhörer krabbelt allmählich wieder in die Höhe. Wir sind dankbar und hoffen, dass das Publikum und die Musiker viel Freude haben (ganz zu schweigen von unserem Wirt Roland).
John Harrison eröffnete wie üblich den Abend – den 123. – (bemerkenswerte Zahl) mit seinem bekannten Schlachtruf und dem Blues (was sonst?) “Walking Blues“ von Son House, aber bekannt geworden in der Interpretation von Robert Johnson. Dabei entlockte er seiner Resonator Gitarre mit Bottleneck-Technik einen wahrhaft hinreißenden Sound. Mit „Mr Solitaire“ und „Albert McShah“ folgten zwei Eigenkompositionen. Witzig ist insbesondere das zweite der beiden Lieder, das über einen bluesbesessenen Scheich berichtet.
Nach langer Zeit beehrte uns einmal wieder unser Jungstar Dennis Ledermann mit drei Liedern. Die Ballade „Achterbahn“ erzählt allegorisch von dem kurvenreichen Lebensweg. Mit zartem Fingerpicking begleitete er das halb auf Deutsch, halb auf Englisch gesungene Lied „Reach The Sun“. „Someday I reach the Sun, someday I reach the stars” lautet eine Zeile. Eine kleine Hymne auf den Folk Club, die Dennis bereits 2020 in einem virtuellen Konzert aufgeführt hatte, hat er leicht auf die Corona-Ereignisse umgetextet. Der Folk Club darf sich geehrte fühlen. Die Version von 2020 könnt ihr im Übrigen auf Youtube unter dem folgenden Link anhören: https://www.youtube.com/watch?v=g1_aHNbzI9k&t=1054s
Ebenfalls seit langem nicht mehr im Folk Club aufgetreten war Gerald Löhrer, der diesmal mit männlicher Begleitung in Person von Martin erschien. „Norwegian Wood“ von den Beatles, „Every Breath You Take“ von Police und “Lemon Tree” der deutschen Band Fool’s Garden waren ihre Beiträge, die sie mit großer stimmlicher und instrumentaler Klasse interpretierten. Bitte mehr davon in zukünftigen treffen des Folk Clubs!
Seinen Frust über den ungeliebten Aufenthalt in einem englischen Internat in seiner Jugend spielte und sang sich John Hay von der Seele. „Victim Of A British Boarding School“, lautet der Titel seiner Eigenkomposition. Welche seelischen Leiden die Kinder erdulden, die ihre Schulzeit in Internaten verbringen müssen, mag man daraus erahnen. Sind britische Internate noch spezieller als die in anderen Ländern? Euer Chronist kann es nicht beurteilen, denn er hat stinknormale Schulen in der ebenso stinknormalen westfälischen Industriestadt Hagen besucht, wo man hochnäsige Kinder arroganter Oberschicht-Eltern nicht antreffen konnte.
John Harrison startete nach der Pause eine zweite Runde, musste aber auf sein Bottleneck verzichten, das inzwischen unauffindbar war und bis heute verschwunden ist. Liebe Folk-Club-Freunde, wenn jemand von Euch das kleine Metallröhrchen irgendwo gefunden und versehentlich eingesteckt hat, wir freuen uns, wenn es wieder auftaucht. „Love In Vain“ von Altmeister Robert Johnson klingt mit Bottleneck zwar authentischer, aber John meisterte es gekonnt auch ohne. Im Lied „Silver City” von Mance Lipscomb geht es um das Leben der Leute am hinteren Ende der Wohlstandshierarchie. „Stormy Monday“ von T-Bone Walker erzählt vom Ablauf der Wochentage, an dessen Ende der Sänger aber um Gottes Gnade bittet, denn irgendwo im Verlauf der Woche, vermutlich am Freitag und Samstag („The eagle flies on Friday now, Saturday I'll go out to play“), hat er mit ziemlicher Sicherheit gesündigt. Zum Schluss brachte John mit „Hail, Hail, The First Of May” eine kleine Referenz an den Wonnemonat, der dem Liedtext zufolge den eigentlichen Beginn des Sommers markiert.
John Hay läutete das Ende des Abends mit einer schönen Vertonung eines romantischen Gedichtes von Alfred Edward Housman, „White In The Moon The Long Road Lies“ ein. Das Gedicht ist ein Teil aus dem Zyklus „A Shropshire Lad“. Sage einer, der Folk Club komme seinem Bildungsauftrag nicht nach. Johns Lied „Stella“ beruht auf einem Gedicht von seinem Bruder, der darin eine Begebenheit mit einer Bedienung in einem Café beschreibt.
Wie immer war damit der Abend natürlich nicht ganz beendet, denn die gesamte Besatzung musste noch Jock Stewart („A Man, You Don’t Meet every Day“), mit der inoffiziellen Folk-Club-Hymne huldigen.
Auf Wiedersehen am 3. Juni erneut im Saal von Dotty’s mit der 124. Auflage des Folk Clubs.
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